ist das die berliner luft?

von johannes wierz

 

Berlin ist auch außerhalb des Fußballs immer eine Reise wert. Das habe nicht nur ich, sondern hat Ende November auch eine große Gruppe Gladbach-Fans gedacht. Um die achthundert von uns hatten sich gemeldet, um am Samstag per Schiff die Stadt zu erkunden und am Ende über die Spree am Luisenkai in Köpenick von Bord zu gehen. Den Weg zur Alten Försterei legten wir dann zu Fuß zurück. Wasserwege hat Berlin genug und mehr Brücken als Venedig.

Als Tabellenführer ging es gegen den Aufsteiger Union Berlin: Die Alte Försterei ist ein besonderes Stadion. An Weihnachten singen die Fans dort mit ihren Angehörigen stundenlang Weihnachtslieder. Und bei internationalen Turnieren, wie Europa- oder Weltmeisterschaft, schleppen sie Sofas und Sessel aus ihren Wohnungen auf das Grün, um bei Grillwurst und Flaschenbier Public viewing zu erleben. Eine große Familie, die Unioner. 

Vier Ausflugsboote hatten wir angemietet, voller Vorfreude ging es an Bord. Die Fahrt war ruhig, aber als Tabellenführer wiegte es sich ohnehin leicht im Schritt. Als erstes sahen wir das Regierungsviertel mit dem Reichstag und dem würfelförmigen Kanzleramt, dass die Berliner wegen des großen runden Fensters liebevoll Waschmaschine nennen. Es folgte die historische Mitte, mit Dom, Neuer Synagoge, Museumsinsel und dem neuerrichteten Stadtpalast des letzten Kaisers, das jetzt das Humboldt Forum beherbergt. Die Smartphones waren im Dauereinsatz: der Niederrheiner staunte nicht schlecht, was sich in den letzten Jahren in der Hauptstadt so alles verändert hat.

Ein stressfreies Wochenende mit Kreuzberger Nächten und der Eroberung von Friedrichshain und dem Prenzlauer Berg klang sanft schaukelnd aus. Ich lehnte mich auf dem Außendeck zurück, schloss die Augen und genoss die weltberühmte Berliner Luft. Aber was war das auf einmal? Ein Ei hatte meine Hand getroffen und sich in glitschigen Schleim verwandelt. Ehe ich ausweichen konnte, traf mich bereits ein zweites. Ich schaute mich um. Vor mir klopfte sich jemand Schutt von den Kleidern. Entsetzt schauten wir gemeinsam auf einen Dritten, der völlig durchnässt dastand und fassungslos an seinen Kleidern roch.

„Das ist Pisse“, schrie er entsetzt.

Eingetragener Verein

Der als gemeinnützig anerkannte Verein „Faire Fans e.V.“ versteht sich als Stimme der schweigenden Mehrheit der friedliebenden Fans.

Auf der Brücke hinter uns in Moabit, auf dem Wellenwebersteg, standen ein paar Vermummte, die Eimer mit Bauschutt und Fäkalien ausschütteten und uns mit Eiern bewarfen. Wer sind die, dachte ich und ertappte mich bei der Frage, wieso ich ohne Schirm an Bord gegangen war. Aber wer geht schon bei gutem Wetter mit Schirm zum Fußball!

Die Smartphones von denen, die nicht getroffen waren, drehten ihre Filmchen, die Vermummten tanzten dazu wie die Derwische und zeigten uns ihre dreckigen Finger. War die Mitte von Berlin vielleicht nur eine Fassade, eine Filmkulisse aus Pappmaschee wie in Babelsberg? Herrschte in Wahrheit überall viel Elend mit Slums von unvorstellbarem Ausmaß? Aber würde das rechtfertigen, Notdurft, Bauschutt und verdorbene Eier über die Brücken zu entsorgen? Oder sollten wir als Wohlstandstouristen für unsere Ignoranz bestraft werden?

Nein, der ekelhafte und nicht ganz ungefährliche Anschlag ging gezielt gegen uns als Gladbach-Fans. Ich fragte mich, ob der Aufstieg in die 1. Liga vielleicht den Charakter der Unioner verdorben hatte... Eher nicht, denn von der Brücke ertönten inzwischen Hohngesänge, die wir aus einem anderen Berliner Stadion zu kennen meinten. Warum aber vermummten sich diese Leute, um sich alsbald durch Gesänge annähernd zu identifizieren?

Während des Spiels in der Alten Försterei dachte ich unaufhörlich darüber nach, was Menschen überhaupt dazu bringen mag, andere mit Unrat zu bewerfen. Ich fand und finde bis heute keine Antwort darauf. Viele von uns waren, ähnlich wie ich, während des Spiels nicht ganz bei der Sache. Vielleicht rührte daher auch das Unentschieden, das uns aber noch nicht die Tabellenführung kostete...

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